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Meine Jugendweihe 1973
Von größter Wichtigkeit war nun natürlich das rechtzeitige Eintreffen der Verwandtschaft. Während man die Verwandten aus der DDR häufig traf, galten Onkel und Tante aus dem Westen als Ehrengäste. Nach dem 2. Weltkrieg hatte es den älteren Bruder meiner Mutter nach Bayern verschlagen, wo er eine Familie gründete. Jetzt sollte es ein Wiedersehen geben. Ich lernte meinen Onkel Rudi und seine Frau Rosi persönlich kennen. Und ich war begeistert. Der Ostpreuße hatte seinen Dialekt beibehalten. Der bayrische Einfluss war nur geringfügig. Vor mir stand ein stattlicher, attraktiver Mann, dem ich gern stundenlang zuhören wollte. Seine Frau war … nett, irgendwie unscheinbar; eine Rosi eben. Vor allem die Geschwister hatten sich allerhand zu erzählen. Viele Jahre bestand lediglich ein Briefkontakt. Ja, damals schrieb man sich tatsächlich noch Briefe, handschriftlich mit einem Stift auf Papier. Nun aber waren die Verwandten hier, und schon damals hätte ich ihnen gern „mein“ Halle genauer vorgestellt. Auf jeden Fall betonten sie mehrfach, dass ihr Bild von der DDR ein völlig falsches war. Auch wenn man längst nicht immer alles kaufen konnte, was man gerade haben wollte, gab es keine leeren Warenregale, niemand musste hungern und viele Dinge waren im Gegensatz zum Westen erstaunlich preiswert, oder übermäßig teuer. Auch die Bedeutung der Jugendweihe hatten sie ganz falsch eingeschätzt. Die Tante meinte noch, hätten sie gewusst, dass diese Feierlichkeit eine so große, wichtige Sache ist, hätten sie sich anders vorbereitet. Nun ja, ich wüsste nicht, was man da hätte anders machen sollen. Am Vorabend der Feierlichkeit drückte mir die Tante ein zerknautschtes Taschentuch in die Hand. Ich sah sie fragend, fast schon angeekelt an. Ein benutztes Taschentuch? Sie lächelte und nickte mir aufmunternd zu. Ich bemerkte, dieses Taschentuch war durchaus sauber und neu, aber etwas schwerer und bei genauerem Hinsehen stellte ich fest, da war etwas eingenäht. Vielleicht war es verboten, Schmuckgegenstände als Geschenk über die Grenze zu bringen. In dem Taschentuch befand sich eine goldene Armbanduhr.
Sonntag, 8. April 1973 – der Tag meiner Jugendweihe. Heute hieß es früh aufstehen. Vor vielen Häusern in der Stadt wurde angezeigt: Hier wohnt ein Jugendlicher, der heute in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen wird. Dazu wurde vor die Eingangstüren des Hauses der Weg mit Mehl bestreut, auf den kleine Tannenzweiglein verteilt wurden. Leider ist mir die Bedeutung dieser Tradition nicht bekannt. Aber hübsch war’s. Ich machte mich schon sehr früh auf den Weg in die Innenstadt, wo ich mit Carmen verabredet war. Die Friseuse aus der Lauchstädter Straße hatte angeboten, uns zur Feier des Tages bei sich zu Hause hübsch zu machen. So geschah es auch und wir trafen gerade noch pünktlich im „Theater des Friedens“ ein. Wir hatten das Glück, unsere Jugendweihefeierstunde im größten, schönsten und wichtigsten Saal der Stadt erleben zu dürfen. Das Parkett war voll besetzt mit festlich gekleideten Verwandten. Die Hauptdarsteller des Tages waren wir, die 8. Klasse der POS Ulrich von Hutten oben auf der Bühne. Man hatte dazu Stuhlreihen diagonal auf die Bühne gestellt, wo wir während der ganzen Veranstaltung saßen. Alles war viel festlicher als bei all den Jugendweihen, die ich bis dahin durch meine Chormitwirkung kennengelernt hatte. Und was waren wir alle schön! Diese zauberhaften Kleider und dann auch noch die tollen Frisuren! Nie hatte ich so ein Volumen auf dem Kopf. Da waren Schillerlocken gedreht worden und toupiert, dass sogar der alte Händel auf dem Markt mit seiner barocken Perücke neidisch werden musste. Meine Güte, war ich schön! Die Scheinwerfer waren auf uns gerichtet, das Händelfestspielorchester spielte die Ouvertüre zu „Xerxes“ und dann rasselten wir unser Gelöbnis herunter. Als Zeichen unseres Erwachsenseins wurden dabei die Stimmen leicht gesenkt. „Ja, das geloben wir“ sollte etwas gelangweilt und damit möglichst lässig und cool klingen. Man überreichte uns das am weitesten verbreitete Druckwerk der DDR „Weltall Erde Mensch“ zusammen mit einer Urkunde und der Verfassung der DDR. Es gab ein paar Blümchen. Alles war so feierlich. Jetzt waren wir also erwachsen. Ab morgen mussten uns die Lehrer in der Schule mit „Sie“ ansprechen, vorausgesetzt wir verweigerten ihnen die Fortsetzung des „Du“ nicht. Nach der Pflicht kommt jedoch noch die Kür und das bedeutete heute: FEIERN
Landestheater, Theater des Friedens, Opernhaus Halle
Es wurde eine schöne Familienfeier. Die Wohnung war voll und alle Verwandten waren da. Die meiste Arbeit mit der Vorbereitung und auch mit der Durchführung hatte meine Mutter. Es sollte alles perfekt sein. Ich glaube aber, genau solche Herausforderungen liebte sie. Die Jugendlichen setzten andere Prioritäten. Als Erwachsene waren sie doch noch so herrlich unreif. Als sicheres Zeichen ihres Erwachsenseins wurde vielen Jugendlichen an diesem Tag offiziell gestattet Zigaretten zu rauchen. Man bedenke, zu dieser Zeit war das Verhältnis zur Zigarette noch ein etwas Anderes als heute. Auch der Alkohol floss in Strömen. Nicht selten zeigten sich dabei aber die Eltern mindestens genauso unvernünftig wie ihre Sprösslinge. Genannte Laster kamen in meiner Familie kaum zum Einsatz. Lediglich Muttis selbstgemachter Eierlikör ist bis heute legendär geblieben. Das Wichtigste an der Jugendweihe waren jedoch die Geschenke. Besonders beliebt waren die Geldgeschenke, mit denen sich die jungen Leute schließlich einen Wunsch ganz nach dem eigenen Geschmack erfüllen konnten. Nichts gegen die Chinahandtücher einer entfernten Verwandten, die dafür lange in der Schlange gestanden hatte und auch nichts gegen die Taschentücher mit der Häkelspitze von der netten Nachbarin, aber so ein junger Mensch freute sich eben doch mehr über andere Dinge. Ich kaufte mir im darauffolgenden Jahr einen Minett Kassettenrecorder zu 525,- Mark. Dazu holte ich mir ein Mikrofon zu 54,- Mark. Eine leere Kassette mit zweimal 30 Minuten Spielzeit kostete 20,- Mark. Ein teurer Spaß! Wie war ich stolz, als ich mir dann die (schrecklichen) Ergebnisse meiner eigenen Aufnahmen anhören konnte. Aus Mangel geeigneter Verbindungskabel saß ich oft mit dem Mikrofon vor dem Monolautsprecher des alten Radios und hoffte inständig, dass gerade in diesem Moment niemand ins Wohnzimmer platzte. Während ich zurückdenke, lächle ich vor mich hin und überlege, wie das alles überhaupt funktionieren konnte. Wir schrieben Briefe mit Stiften auf Papier, bestenfalls auf einer Schreibmaschine. In den meisten Haushalten gab es kein Auto. Nur einige Privilegierte hatten in der DDR einen privaten Festnetzanschluss. In der Schule rechneten wir ohne Taschenrechner. Computer hatten die Größe von Kleiderschränken und standen in Großbetrieben. Von Internet hatte man noch nichts gehört. Handys, Smartphones? Was ist das? Trotzdem meisterten wir unser Leben und waren durchaus fähig uns zu freuen und zu begeistern; vielleicht sogar mehr und mit einfacheren Mitteln als heute. August 2019
DAS Buch zur Jugendweihe: Weltall, Erde, Mensch Kassettenrecorder Minett + Mikrofon