Meine Jugendweihe 1973
Ich war 14 Jahre alt und Schülerin einer 8. Klasse der Polytechnischen Oberschule. Während die Jüngeren
Mitglied der Pionierorganisation waren, trat man später der Freien Deutschen Jugend (FDJ) bei. In meiner
Klasse waren hier alle Mitglied. Nur ganz wenige Eltern in der DDR duldeten die Mitgliedschaft ihrer Kinder in
diesen Organisationen nicht. War diesen Erwachsenen eigentlich bewusst, dass sie ihnen damit überhaupt
keinen Gefallen erwiesen? Egal wie ihre tatsächliche politische Gesinnung war, mit dem großen, breiten Strom
zu schwimmen, war in jedem Fall vorteilhafter. Schon früh lernten wir die heimliche Hymne der DDR kennen
und verstehen. “Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten …“ Die Jugendweihe hatte keinerlei religiöse
Hintergründe, war eine rein antireligiöse und atheistische sozialistische Veranstaltung und galt als absoluter
Höhepunkt eines Jugendlichen. Dementsprechend wurde sie vorbereitet und gefeiert. Kinder werden in die
Reihen der Erwachsenen aufgenommen. Auch heute werden Jugendweihen vorgenommen, doch sind die wohl
nicht annähernd so feierlich und bedeutungsvoll wie bei uns damals.
Wie kam ich eigentlich auf den Gedanken „Jugendweihe 1973“? Ganz plötzlich fiel mir dieses Großereignis mit all seinen
Zusammenhängen wieder ein und ich ließ die Geschichte Revue passieren.
Nicht nur die eigentliche Feier wurde rechtzeitig vorbereitet, die politische
Gesinnung der Jugendlichen sollte ebenfalls termingerecht stimmen. Etwa ein Jahr
vor dem großen Tag fanden sogenannte Jugendstunden statt. Dabei trafen wir uns an
den Nachmittagen im Blauhemd (FDJ-Hemd) zu Betriebsbesichtigungen, luden
Kriegsveteranen in die Schule ein, oder führten politische Diskussionen.
Eindrucksvollstes Ereignis im Rahmen der Vorbereitung zur Jugendweihe war für
jeden Achtklässler die Fahrt nach Weimar zur KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Die
Lehrer hatten uns bereits viele Einzelheiten erzählt, doch die Realität übertraf alle
Erwartungen. Die Stimmung war locker und fröhlich, als wir durch einen Wald
hinauf zum Gipfel des Ettersberg fuhren. Als sich die Bustüren öffneten, schlug uns
ein intensiver Geruch entgegen. Es roch süßlich nach
Verwesung. Auch darüber hatten die Lehrer gesprochen,
doch konnte sich wohl niemand vorstellen, dass sich dieser
Geruch auch noch so viele Jahre nach Kriegsende halten
würde. Außer uns waren noch viele andere Schulklassen aus der DDR da. Alle wurden zunächst durch
ein kleines Kino geschleust, wo uns erschütternde Bilder erwarteten. Am Ausgang waren alle ganz still
geworden und viele weinten sogar. Jetzt begann die eigentliche Besichtigung des Lagers. Viele
Örtlichkeiten kannten wir bereits aus dem packenden Roman „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz.
Das Buch gehörte zur Pflichtlektüre, ebenso das Schauen des gleichnamigen Filmes. Noch heute gilt
dieser DEFA-Film als ganz großes Meisterwerk. Die Darsteller gehörten ausnahmslos alle zu den
besten Schauspielern der DDR. Und nun standen wir also an den Originalschauplätzen und alles wirkte
noch dramatischer, noch packender, noch tragischer. Als ich etwa 40 Jahre später mit meinem Mann
und unserer Tochter auf dem Gelände des Konzentrationslagers Buchenwald stand, war der Geruch
vollständig verflogen. Was ich dort sah, war jedoch auf andere Weise erschütternd. Respektlos lachten
und tobten Jugendliche, machten unflätige Gästebucheinträge und sprühten Graffiti.
Doch kommen wir zu den ganz privaten Vorbereitungen. So als angehender Erwachsener
musste man auch angemessen gekleidet sein. Man bedenke, wir lebten in der DDR und hatten
keine Möglichkeit entsprechende Kataloge zu wälzen, oder einfach nur im nächsten Centrum-
Kaufhaus etwas Passendes zu finden. Entweder man hatte großes Glück. oder (wie in fast
allen anderen Bereichen auch) „Vitamin B“. Beziehungen waren grundsätzlich das halbe
Leben. Die Jugendweihe war zudem DIE Gelegenheit freundschaftliche Verhältnisse zu den
Westverwandten wieder aufleben zu lassen und zu pflegen, falls das ein wenig ins Stocken
geraten war. Wohl dem, der Westverwandtschaft hatte. Mich erreichte ein paar Monate vor der
Jugendweihe ein Stück hellblauer Selastikstoff von drüben. Wir nannten es Selastik. Auf alle
Fälle war das Material seinerzeit voll im Trend, synthetisch, knitterfrei, etwas elastisch und in
allen Lebenslagen gut in Form. Das war einfach ideal und dann auch noch in dieser traumhaft
schönen Farbe … Ich muss dazusagen, die Jungen trugen 1973 dunkle Anzüge aus dem
Supermaterial Präsent 20 und die Mädchen einfarbige Kleider in Pastelltönen. Hellblau,
hellgrün und rosa waren favorisiert.
Nun macht der schönste Stoff noch kein Kleid. Meine Mutter war zwar
recht geschickt, wollte einst sogar gern Schneiderin werden, doch ohne
Nähmaschine war die Erschaffung eines Kleides eine knifflige Sache.
Gut, dann sucht man eben einen Schneider auf. Doch genauso, wie man
nicht einfach im nächsten Laden eine Nähmaschine kaufen konnte, war
es ein sehr schwieriges Unterfangen einen Schneider zu finden. Wie
überall war man auch hier ohne Beziehungen aufgeschmissen. Meine
Eltern waren beide Eisenbahner bei der Deutschen Reichsbahn und
hatten viele gemeinsame Arbeitskollegen. Einer von ihnen wohnte in
Wettin und hatte eine Tante, die längst in Rente ab und zu noch
Schneiderarbeiten übernahm. Man einigte sich und so fuhren wir nach
Wettin. Obwohl der kleine Ort unweit von Halle an der Saale liegt, glich
die Fahrt einer kleinen Weltreise. Ein Auto besaßen wir nicht. Mit
Straßenbahn und Eisenbahn waren wir bestens vertraut, aber nach Wettin
ging es nur mit dem Bus. Und das war eine langwierige, umständliche
Angelegenheit. Vielleicht hätte ich die Fahrt als weitaus spannender
empfunden, hätte ich damals schon die leiseste Ahnung und das geringste Interesse für die Bedeutung des Ortes mit seiner
mächtigen Burg gehabt. Das Herrschergeschlecht der Wettiner stellte die Markgrafen, Kurfürsten und Könige in Sachsen,
Großbritannien, Belgien, Bulgarien sowie in Polen. So trieb uns nur der bevorstehende Jugendweihetermin mit einem Stück Stoff
aus dem Westen in den kleinen verschlafenen Ort.