Kennen Sie das Gefühl, eigentlich ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil Sie sich ungerecht und einfach schändlich verhalten haben? Stattdessen befriedigt Sie Ihr Vergehen und erfüllt Sie eventuell sogar mit einem gewissen inneren Stolz. Mir erging es so, als ich mich dazu berufen fühlte, ein kleines Mädchen für seine Nacktheit bestrafen zu müssen. Schon früh wurde mir ein wahrscheinlich übertriebenes Schamgefühl anerzogen. Vielleicht lag das an der Zeit, in der ich aufwuchs. Man ging damals allgemein nicht so freizügig mit unverhüllten Körpern um. An einem heißen Sommertag tummelten sich eine Menge Kinder auf dem Spielplatz unserer Gartenanlage. Die kleinen Mädchen und Jungen trugen Bade- oder Sporthosen, die etwas größeren “Damen” waren mit Badeanzügen oder leichten Kombinationen bekleidet. Unsere Spiele verliefen friedlich und in schönster Eintracht bis der Auftritt eines wenigstens schon 5jährigen Mädchens mein sittliches und ästhetisches Empfinden stark beeinträchtigte. So alt und wagt es hier nackt herumzulaufen? Schämt die sich denn gar nicht? Ich war empört. Hinzu kam, das Kind war fremd hier, keines aus meiner Clique, sondern lediglich zu Besuch im Garten des Opas. Feindselig beobachtete ich das Mädchen, das sich anscheinend keiner Schuld bewusst war. Es bewegte sich völlig unbefangen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, nackt zwischen lauter bekleideten Kindern zu spielen. Die Neue gefiel mir gar nicht. Ich musste mir eine Strategie austüfteln. Also stellte ich mich freundlich, als bemühe ich mich ernsthaft um ihre Freundschaft. Im Laufe des Gesprächs konnte ich mich einer Frage nicht erwehren: “Warum läufst du denn ganz nackend rum?” Sie antwortete: “Weil es so warm ist und ich meine Sachen nicht schmutzig machen darf.” Das war einleuchtend, gab Sabine - so hieß das Mädchen - aber noch längst nicht das Recht, sich in diesem Aufzug, oder besser gesagt Auszug zu präsentieren. Das macht man einfach nicht. Nun hätte ich ihr ja einfach sagen können, was ich davon halte und mich dann nicht weiter um sie kümmern brauchen. Das war mir aber zu unspektakulär. Eine kleine raffinierte Erziehungsmaßnahme erschien mir hier angebracht. Kinder können ja so grausam sein. Ich gebe es nur ungern zu, aber ich kannte in diesem Moment kein Erbarmen. So lockte ich Sabine unter dem Vorwand, ihr einen neuen, tollen Trick zu zeigen auf die Schaukel. Sie sollte sich aber nicht einfach gerade draufsetzen, sondern seitlich, wie auf ein Pferd. Arglos schwang sich die Kleine tatsächlich so auf das Schaukelbrett. Ich freute mich diebisch. Sie vertraute mir. Jetzt war sie mir ausgeliefert. Und nun konnte ich sie in Form einer kleinen Folter bestrafen. Ich schob vorsichtig ab und gab Anweisungen, wie sie ihre Beine halten muss, um nicht abzurutschen. Das war natürlich völliger Unsinn, aber sie tat es trotzdem. Dann schob ich kräftiger ab und Sabine bat mich anzuhalten. Ich dachte jedoch gar nicht daran. Jetzt wurde es doch erst interessant. Die Schaukel bekam einen erneuten Schubs. Sabine begann zu weinen. Sie bettelte und flehte. Schließlich hielt ich die Ketten fest und erklärte ihr eiskalt, sie wäre ein Jammerlappen. Trotz aller Unbarmherzigkeit wollte ich auf keinen Fall, dass sie herunterfällt und sich womöglich verletzt. Es sollte nur ein Denkzettel sein. Ein so großes Mädchen hat einfach nicht mehr nackt herumzulaufen. Das hatte sie jetzt hoffentlich begriffen. Nach dieser Attacke habe ich Sabine nie wieder gesehen. Das war früher unser Garten, Nummer 75 im Gleisdreieck. Im Jahr 2008 war er nicht mehr wiederzuerkennen; anderer Zaun, andere Laube, keiner der alten Bäume und das Rosenspalier am Eingang fehlt auch.