Mein Vater war ein stiller, geduldiger Mann, den nichts so schnell aus der
Ruhe brachte. Seine kleine Tochter jedoch schaffte es, ihm von Zeit zu Zeit
ein genervtes Stöhnen, verbunden mit dicken Schweißperlen auf der Stirn zu
entlocken.
Während ich mir auf der Fahrt nach Döbeln erfolgreich die Schokolade
ersang, verlief die Rückreise am selben Tag weniger harmonisch. Wir
drückten also wieder einmal die Holzbank und mich drückte die Blase. Mein
Vater nahm mich an die Hand um die nächste Toilette aufzusuchen. Ein Blick
in das schmutzige, stinkende Kabüffchen genügte. So zogen wir zum nächsten
Klosett. Doch als ich da hineinsah, erklärte ich meinem Vater, mir sei es
vergangen und wir setzten uns wieder in das Abteil. Schon früh zur Sauberkeit
erzogen, hatte ich eine Aversion gegen Dreck und Gestank. Besonders was die
Toiletten betraf, war ich da immer sehr penibel. So saß ich also und schaukelte
ungeduldig hin und her, was jedoch mein immer stärker werdendes Bedürfnis
nicht verdrängte. Nach einer Weile starteten wir einen erneuten Versuch. Mein
Vater durchkämmte mit mir den ganzen Zug auf der Suche nach einer
halbwegs sauberen Toilette, aber jedes Mal wurde ich vom Ekel übermannt.
Ratlos und auf mein Durchhaltevermögen hoffend setzten wir uns schließlich
wieder. Das Rütteln und Schütteln des Zuges ließ jedoch schon bald das
passieren, womit man in meiner Situation hätte rechnen müssen. Jetzt war ich
erleichtert, aber nass. Ich sehe noch den gequälten Gesichtsausdruck meines
immer etwas unbeholfenen Vaters vor mir, der nun im ersten Moment nicht
wusste, was er tun sollte. Ich trug damals ein niedliches, hochmodernes
Perlonkleidchen. Es war in, dass die kleinen Mädchen darunter
Rüschenschlüpfer anhatten. Die Kleider wurden so kurz getragen, dass der
berüschte Kinderpopo ruhig gesehen werden durfte. Aber was tat man, wenn
so ein Höschen das Opfer fehlender sauberer Toiletten wurde?
Kurzentschlossen zog ich es aus. Mein Vater verschwand hinter einer der
verhassten Türen mit der Aufschrift “00”, wusch es so gut es ging aus, wrang
es kräftig, legte ein Taschentuch auf die Holzbank, breitete das Höschen darauf
aus und setzte sich drauf. Zum Glück war es Sommer, als wir beide mit
gekühlten Hinterteilen dem Halleschen Hauptbahnhof entgegen fuhren. Kurz
vor dem Ziel zog ich mich wieder an. Mein Vater war der ideale
Wäschetrockner. Ich erinnere mich nicht, ob sich auf seiner Heckseite ein Fleck gebildet hatte.
Ich dagegen scheute keine Mühe, wenn es darum ging, mein Ziel zu
erreichen. Dabei wandte ich auch gelegentlich Tricks an, die zwar nicht
besonders fein, aber wirkungsvoll waren.
So fuhr ich einmal mit meinem Vater im Zug nach Döbeln, um Bekannte zu
besuchen. Wir saßen in einem der damals typischen 2.-Klasse-Abteilen mit
den hohen Holzbänken. Gepolsterte Sitze gab es nur in der 1. Klasse. Der
Zug war nicht besonders voll und schräg gegenüber von uns saß eine
auffallend gutgekleidete ältere Dame. Die holte plötzlich eine Tafel
Westschokolade aus ihrer Tasche, die sie langsam und genüsslich
auswickelte. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich überlegte, wie ich
die Frau dazu bringen könnte, mir ganz freiwillig ein Stück von dieser
Köstlichkeit, auf die ich doch so großen Appetit verspürte, abzugeben. Dass
man nicht betteln oder die Leute allzu neugierig beim Essen beobachten
darf, hatten mir meine Eltern eingeschärft. Dazu hätte ich mich bei fremden
Leuten auch nie herabgelassen. Eine gesunde Portion Stolz hatte ich auch
damals schon. Nun wollte ich jedoch unbedingt von der Schokolade etwas
haben. Die Zeit drängte. Also tat ich das, was ich am besten konnte. Ich
sang. Unter dem Vorwand, mir ein wenig die Füße zu vertreten, stand ich
auf und lief den Gang auf und ab. Natürlich so, dass mich die Dame immer
sehen und vor allem hören konnte. Ich kannte damals eine Menge Schlager
und so sang ich von Adelheid, den 2 kleinen Italienern, von Mary Lou, von
der Liebe, die ein seltsames Spiel ist usw. . Ich sang laut, schön (davon war
ich jedenfalls überzeugt) und immer mit einem unauffälligen Blick auf die
Schokolade. Die Dame lächelte gütig, spendete sogar Beifall und bot mir
schließlich ein Stück des begehrten Kakaoproduktes an.
Heute kann ich mir vorstellen, dass sie meinen Plan durchschaut hatte, aber
so viel Aufwand muss schließlich belohnt werden.
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