Im Sommer besuchten wir oft unsere Verwandten auf dem Land. In der
Altmark gibt es große Kiefernwälder, in denen wir ausgedehnte
Spaziergänge unternahmen. Zur Heidelbeerzeit wählte ich immer das
größte Gefäß, denn ich war ja ein fleißiges Mädchen und würde es sicher
schnell füllen. Davon war ich überzeugt. Doch schon nach wenigen
Minuten stachen die Mücken, kratzte das Heidelbeerkraut und überhaupt,
die Sache wurde langweilig. Der Boden des Gefäßes war bedeckt und so
widmete ich mich nun interessanteren Beschäftigungen. Beispielsweise
schubste ich einen schillernden Mistkäfer durch den Sand oder schaute mal
nach, was das benachbarte Roggenfeld für Attraktionen zu bieten hatte. Da
gab es nichts Besonderes, wie sich bald herausstellte, aber der hohe Roggen
bot ein ideales Versteck für ein kleines Mädchen, das ein bisschen
Spannung ins Familienleben bringen wollte. Schon bald hörte ich die
Stimmen meiner Verwandten. Versteckspielen war doch viel lustiger als
dieses langweilige Heidelbeeren pflücken. Die Großen sollten mich ruhig
noch eine Weile suchen und wenn sie mich entdeckten, müssten sie sich
verstecken. Allmählich klangen ihre Rufe immer verzweifelter und irgendwie taten sie mir leid. Ich weiß nicht wieso, aber
die Erwachsenen spielen nicht gern Verstecken; überhaupt, sie spielen nicht gern das, was mir besonders viel Spaß
bereitet. Sie bilden sich ein, dafür schon zu groß zu sein. Wie lange wächst man denn, bis man nicht mehr spielen darf?Ja,
ja, ich habe schon verstanden, ihr wollt nicht mit mir Versteck spielen und ich bin schließlich kein Unmensch. Schade,
dass die Erwachsenen immer so schwerfällig sind.
Mit einem gewinnenden Lächeln trat ich aus dem Roggenfeld heraus. Meine Verwandten schauten erleichtert und
bombardierten mich dann mit Vorwürfen. Das hätten sie sich ruhig sparen können.
Während eines anderen Ausflugs in den Wald verspürte ich ein dringendes Bedürfnis. So wie die meisten
Leute auf dem Dorf, besaßen auch unsere Verwandten kein Wasserklosett, sondern nur
ein primitives
Plumpsklo auf dem Hof. Dieses stille Örtchen suchte ich nur so selten wie möglich und
mit großem
Widerwillen auf. Mitten im Wald erschien mir die Sache noch abenteuerlicher und widerwärtiger. Aber was
sein muss, muss sein, und Not macht erfinderisch. So suchte ich mir ein geeignetes Plätzchen und fand einen
ausgehöhlten Baumstumpf, der mit viel Phantasie einem Toilettenbecken ähnlich sah. Der kleine, blanke
Kinderpopo ließ sich also vorsichtig auf die passgenaue, raue, natürliche Toilettenschüssel nieder, um
Sekunden darauf wie von der Tarantel gestochen aufzuspringen. Es war zwar keine Giftspinne, die
mich dazu veranlasste, aber wer es schon mal mit Ameisen zu tun bekommen hat, wird
nachempfinden können, wie mir zumute war. Es schien, als wollten sich die armen
Tierchen für den schändlichen Missbrauch ihres Heims mit aller Macht an mir
rächen. Ich sprang wie Rumpelstilzchen brüllend mit heruntergelassener Hose durch
den Wald. Überall kribbelte und piekte es und dieses Gefühl war mehr als
unangenehm. Meine Mutter und meine Tante kamen herbeigeeilt, um mich aus
dieser Misere zu befreien. Dabei bogen sie sich vor Lachen, was meinen Zorn und
die Wut noch verstärkte. Während sie sich unter wildem Gelächter bemühten, die
lästigen Tierchen von meinem Körper zu wischen, schimpfte ich schreiend nicht
mehr nur auf die furchtbaren Ameisen, sondern auch auf die beiden albernen
Frauen. Was gab es denn da zu lachen? Diese blöden Viecher fraßen mich
halb auf und anstatt mich gebührend zu bedauern, gackerten sie wie die
Hühner. Das ist doch unfair. Aber so sind die Erwachsenen. Einerseits
verlangen sie genauso vernünftig zu sein, andererseits nutzen sie die
Naivität der Kinder zeitweise schamlos aus, ohne damit zu rechnen, dass
ihre Sprösslinge längst nicht so dumm sind, wie sie annehmen.
Ein typisches Beispiel dafür war folgende Begebenheit:
Meine Tante hatte für Nachbarn Korn auf ihrem Speicher gelagert. Damit lockte sie aber auch ungebetene Gäste an und so
machten wir eines Tages Jagd auf ein kleines graues Mäuschen. Es gelang uns, das Tier lebend zu fangen. Als Tiernarr
konnte ich meine Verwandten dazu überreden das Mäuschen zu behalten. Ich brachte es vorläufig in einer etwa 30 cm
hohen Zinkschüssel unter. Da Mäuse bekanntlich gern Speck fressen, legte ich ein kleines Stück davon mit hinein. Dem
guten Tier sollte es an nichts fehlen, denn ich liebte es über alles. Schon bald klebte das graue Fellchen fettig an dem
winzigen Körper und mein Liebling mit den schwarzen Knopfaugen sah gar nicht mehr schön aus. Aber das störte mich
nicht. Ich beobachtete die Maus, wie sie in der Schüssel herumlief, streichelte sie und war fasziniert von diesem putzigen,
flinken Wesen. Leider wurde mir nicht erlaubt, das Gefäß im Haus aufzustellen. So musste ich mich am Abend im
Geräteschuppen von meinem kleinen Schatz verabschieden. Das gefiel mir gar nicht, aber ich freute mich schon auf den
nächsten Tag, wenn ich wieder mit ihm spielen konnte. Kaum erwacht, rannte ich sofort in den Schuppen. Doch was war
das? Da lag die Schüssel umgestürzt und mein Mäuschen ... weg! So ein Tier wiegt nur wenige Gramm, die Schüssel
dagegen mindestens ein Pfund. Ich konnte damals noch nicht mit Gewichtseinheiten umgehen, aber so viel war mir klar:
Durch das Eigengewicht der Maus hätte die Schüssel nicht umgestoßen werden können. Da hatten Zweibeiner ihre Hand im
Spiel gehabt. Nachdem die erste Trauer überwunden war, stürmte ich wütend in die Küche, von wo man bereits das ganze
Schauspiel beobachtet hatte und stellte meine Leute zur Rede. Natürlich spielten sie die Ahnungslosen. Warum
sollten sie sich an der Schüssel vergreifen? Allein die Freiheitsliebe des Tieres hätte ihm die Kraft
verliehen, das schwere Gefäß umzustoßen, um das Weite zu suchen. Empört fragte ich, für wie dumm
sie mich denn halten. Da wurden ihre Unschuldsbeteuerungen immer dünner. Sie mussten schließlich
eingestehen, dass schon etwas mehr Einfallsreichtum dazugehörte, um mich zu überlisten.