Die beschriebenen Erlebnisse geben Aufschluss über meinen Charakter. Heute würde ich niemanden auf der Schaukel oder wo auch immer quälen, oder Erziehungsmaßnahmen ergreifen, um mein Gewohnheitsrecht durchzusetzen. Ich würde auch keine Reaktionen testen, wofür ich vorsätzlich Schaden anrichte. All diese Begebenheiten jedoch gehören zu mir. Sie erfüllen mich nicht unbedingt in jedem Fall mit Stolz, aber sie trugen zu meiner Persönlichkeitsentwicklung bei. Ich habe sie wahrheitsgemäß und heiter dargestellt, in der Hoffnung, dass sie teilweise auch besinnlich wirken. Dabei wählte ich bewusst den Zeitraum bis zu meiner Veränderung, weil das einfach die schönste und sorgloseste Zeit meines Lebens war. Bemitleidenswert war auch ein Geschwisterpaar meiner Klasse. Die beiden kamen aus weniger guten Verhältnissen. Freunde hatten sie kaum, denn mit Wasser und Seife gingen sie äußerst sparsam um. Manchmal fanden wir unter den Bänken vergessene oder absichtlich liegengelassene Schulbrote. Die Geschwister sahen absolut nicht unterernährt aus, machten auf die Lehrerin anscheinend aber so einen ärmlichen Eindruck, dass sie nach einer gründlichen Begutachtung die Schnitten an die beiden verteilte. Ich hätte sie garantiert nicht gegessen, und wenn der Magen noch so laut knurrte. Die Geschwister aßen sie auf, sogar mitten in der Unterrichtsstunde. Das war eine Freiheit, die Fräulein Lenz gern einräumte, weil sie selbst zwischen Deutschdiktaten und dem Einmaleins ständig Knäckebrot knusperte. Nur mit Brötchen oder Weißbrot durften wir uns nicht von ihr erwischen lassen. Das hielt sie für ungesund und nannte es Paps. Mit unserem Fräulein erlebten wir einige recht merkwürdige Episoden. Bei Glatteis kam sie einmal mit dicken Wollsocken über den Schuhen in die Schule. Sie dachte gar nicht daran, sie wenigstens hier auszuziehen. Ich war nicht die einzige Schülerin, die den ganzen Tag belustigt auf ihre Füße schaute. Ein anderes Mal erzählte sie uns, weil sie einen ihrer Schuhe nicht finden konnte, hat sie heute ausnahmsweise den rechten von ihrem Bruder an. Fräulein Lenz hatte ziemlich große Füße. Deshalb trug sie meist Herrenschuhe. Der Bruder muss wohl die gleiche Größe gehabt haben. So konnten sie sich ab und zu austauschen. Ein Witz? Nein, Fräulein Lenz meinte das hundertprozentig ernst. Manchmal war der Lehrstoff so langweilig, dass jemand nur ein Stichwort geben musste, um vom Thema abzulenken. Dann erzählte Fräulein Lenz gern eine ihrer düsteren Jugendgeschichten und eins, zwei, drei war die Stunde um. An ihre Lieblingsstory kann ich mich noch gut erinnern. Sehr dramatisch berichtete sie von einem Weg über ein Feld während eines Gewitters. Sie schmiss sich flach auf den Boden und robbte über den Acker bis zu einer Baumgruppe. Da stellte sie sich unter eine Buche. In unmittelbarer Nähe schlug der Blitz in eine Eiche ein. Verheißungsvoll und mit erhobenem Zeigefinger pflegte sie abschließend zu sagen: “Weiche der Eiche! Suche die Buche!” Einmal lieh sich mein Banknachbar einen Radiergummi aus. Als ich den nun selbst benötigte, sprach ich ihn an. Obwohl ich sonst ganz ruhig war, bekam ich sofort eine Abfuhr. “Bis morgen schreibst du zehnmal: ,Ich schwatze nicht im Unterricht.’” Das fand ich sooo ungerecht! Andere Schüler unterhielten sich in der Mathematikstunde über dies und jenes miteinander. Ich wollte lediglich meinen Radiergummi zurück und wurde deswegen des Schwatzens beschuldigt. Kinder in der Hofpause. Alle bewegen sich, spielen, rennen, toben, zum Stillsitzen ist im Unterricht genug Gelegenheit. Eine Klasse bildete dabei eine große Ausnahme. Klingelte es zur großen Pause, musste die Klasse 2d zu zweit antreten und unter Führung von Fräulein Lenz artig und gesittet, Hand in Hand auf dem Schulhof flanieren. Sehnsüchtig schauten wir auf die fröhlich herumtollenden Kinder. Die konnten nicht mehr, als uns bemitleiden. Mit dem 3. Schuljahr ging Fräulein Lenz endlich in Pension. Wir bekamen eine jüngere Lehrerin mit zeitgemäßeren psychologischen und pädagogischen Kenntnissen. Das vergangene Schuljahr wirkte sich ganz maßgeblich auf meine Persönlichkeitsentwicklung aus. Das offene, redegewandte, unbeschwerte Mädchen wurde zurückhaltender. Sein Selbstwertgefühl verwandelte sich mehr und mehr in Unsicherheit. Ich möchte nicht die ganze Schuld daran auf diese Lehrerin abwälzen. Wahrscheinlich liegen die Wurzeln für diese Veränderung viel tiefer. Heutzutage weiß man, dass die entsprechende Gehirnhälfte bei einem Linkshänder stärker ausgebildet ist und dies keinen Makel darstellt. Eine Umgewöhnung ist ein gravierender Einschnitt in die gesamte Persönlichkeit. Heute verrichte ich die meisten Arbeiten mit der rechten Hand. Die Geschicklichkeit, z. B. beim Malen mit der linken, habe ich nach meiner Einschulung verloren. Trotzdem gibt es noch viele Tätigkeiten, die ich nur mit links verrichte. Brot, Wurst, Gemüse schneiden - das funktioniert bei mir nur, wenn ich das Messer in der linken Hand halte. Ja, möglicherweise steckt der Schlüssel für meine Wandlung genau da und dieses alte Fräulein hat mit ihrem Verhalten alles nur bestärkt. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn man mich Linkshänder hätte bleiben lassen?