Mit meinem 8. Geburtstag gingen auch die Sommerferien zu Ende. Hinter mir lagen zwei erlebnisreiche schulfreie Monate. Ich war verliebt in mein eigenes Kinderzimmer und nun sollte ich auch die neue Schule kennenlernen; die POS Ulrich von Hutten in Halle. Am 1. Schultag des 2. Schuljahres begleitete mich meine Mutter. Ich freute mich auf eine freundliche junge Lehrerin und auf nette Mitschüler. Im Sekretariat teilte man mir mit, dass ich in die Klasse 2d zu Fräulein Lenz, in Raum 3 gehen solle. Fräulein Lenz - eine Lehrerin mit so einem freundlichen Namen musste einfach jung, hübsch und sehr nett sein. Mit meiner Mutter stieg ich also wieder hinunter ins Erdgeschoss. Dort stand eine kleine, blonde, attraktive Frau. Das musste sie sein. “Fräulein Lenz?” Die junge Frau schüttelte den Kopf und wies zum Nachbarraum. Dort fanden wir aber kein Fräulein Lenz. Lediglich eine Putzfrau jagte schimpfend mit einem Blumentopf durch das Klassenzimmer. Zu DDR-Zeiten war es durchaus üblich, dass sich vitale alte Leute noch etwas zu ihrer niedrigen Rente dazuverdienten. Diese Putzfrau war mindestens 70 Jahre alt, groß, sehr schlank, altmodisch gekleidet und ihren auffallend kleinen Kopf krönte ein Haarnetz. Unter einer Oma stellte ich mir eine kleine, gütige, liebenswerte Frau vor. Eine so unsympathische Oma wie diese Putzfrau wollte ich nicht geschenkt haben. Was bildete die sich eigentlich ein? Als Reinigungskraft hatte sie sicher nicht das Recht, in diesem Ton die armen Kinder zu tyrannisieren. Wo aber steckte Fräulein Lenz? Jeden Moment musste es doch wieder zur neuen Unterrichtsstunde klingeln? Schließlich fragte meine Mutter die alte Dame. “Ja, ich bin Fräulein Lenz. Ich bin deine neue Lehrerin.” Oh nein! Ganz schockiert blickte ich meine Mutter an, die für einen kurzen Augenblick ebenso entgeistert zurückschaute. Dieser alte Drachen sollte meine Lehrerin sein? All meine Illusionen platzten wie eine Seifenblase. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre geflohen. Mutti drückte fest meine Hand, als wollte sie sagen “Kopf hoch! Da musst du jetzt durch. So schlimm wird es schon nicht werden.” Mit einem mitleidigen Lächeln verließ sie mich. Fräulein Lenz stellte mich der Klasse vor und fragte, ob sie mich “Loni” nennen dürfe. Sie hätte früher bereits eine Ilona unterrichtet, die sie immer “Loni” nannte. “Loni” ... Meine Name ist ILONA. In mir brodelte es. Alles bäumte sich dagegen auf, aber total eingeschüchtert nickte ich mit dem Kopf. Es stellte sich heraus, dass Fräulein Lenz bereits 73 Jahre alt war. Schon mein Onkel hatte unter ihrer skurrilen Regentschaft zu leiden. Nun war sie nicht wirklich boshaft, aber ich bin heute davon überzeugt, dass sie mir eine große Portion meines bis dahin recht ausgeprägten Selbstbewusstseins genommen hat. In der 1. Klasse musste ich mich vom Linkshänder zum Rechtshänder umgewöhnen. Woran ich mich jedoch in der 2. Klasse gewöhnen musste, war noch viel schwieriger. Für meine schöne Handschrift bekam ich bisher nur Einsen. Bei Fräulein Lenz hagelte es plötzlich Dreien. Sie verlangte eine große, schräge Schrift und meine zierlichen, geraden Buchstaben gefielen ihr gar nicht. Sie stand dann neben mir, beugte sich hinunter und ihre feuchte Aussprache hinterließ Flecken auf meinem Heft. Dabei sah ich in ihr zerfurchtes Gesicht. Angeekelt fielen mir dann immer die kleinen weißen Schaumklümpchen in ihren Mundwinkeln auf. Nicht selten kämpfte ich mit einem aufkommenden Brechreiz. Im Mathematikunterricht sollte ich einmal den Lösungsweg einer Aufgabe beschreiben. U. a. sprach ich davon, dass ein “Galgen” gezeichnet werden muss. Plötzlich brach Fräulein Lenz in schallendes Gelächter aus. Natürlich wusste ich, dass dieses Ding auch “Tabelle” genannt wird, aber meine erste Mathelehrerin bezeichnete es meist als “Galgen”. Nun wurde ich dafür von der ganzen Klasse und vor allem von der Lehrerin ausgelacht. Meine künftigen Antworten wurden immer vorsichtiger. Die alte Dame hatte einige seltsame Gepflogenheiten. Stand z. B. in der ersten Unterrichtsstunde eine Klassenarbeit auf dem Plan, kam sie prinzipiell und ausnahmslos zu spät. Sie hatte verschlafen, die Straßenbahn fuhr nicht pünktlich oder der Bruder, mit dem sie zusammen lebte, war erkrankt. Nun knallte sie die Aktentasche hin, stellte einen Stuhl auf den Tisch und dann musste ihr ein Schüler beim Hochklettern behilflich sein. Von da oben hatte sie die beste Übersicht. Kein Schüler wagte zu spicken oder vom Nachbar abzuschreiben.