In den Sommerferien 1966 sollte sich viel für unsere Familie verändern. Endlich bekamen wir
eine größere Wohnung. Hier sollte ich sogar ein eigenes Zimmer haben. Das Bad mussten wir
mit keinem Nachbarn teilen. Wunderbar!
Um alle Umzugsvorbereitungen in Ruhe treffen zu können, schickten mich meine Eltern zu
den Verwandten aufs Land.
Meinem Opa war als Rentner damals bereits
gestattet, in die Bundesrepublik zu reisen. Dort
hatte er kurz zuvor seine beiden Söhne mit ihren
Familien in Bayern besucht. Sie haben mit ihm u.
a. Angelausflüge unternommen, was meinen Opa
so begeisterte, dass er nun auch in heimatlichen
Gefilden auf Fischfang gehen wollte. Meine Tante
kaufte ihm eine Angelausrüstung, die jetzt in
meiner Gegenwart ausprobiert werden sollte. Ich
fand die Idee prima und sah mich schon mit einem
5-kg-Hecht. Tante und Opa kannten jedoch auch
meine Tierliebe. Hätte nun tatsächlich ein Fisch
angebissen, würde ich es doch niemals übers Herz bringen, dieses arme Geschöpf,
das ich ja jetzt gewissermaßen “persönlich” kannte, zu töten oder gar zu essen.
Das hätte ein Riesenspektakel gegeben. Die Geschichte mit der Maus war ihnen
noch in bester Erinnerung. So einen Fisch hätte man dann aber nicht so einfach
“laufen” lassen können
Obwohl sich in der Nähe ein fischreicher See befand, schickte uns die Tante zu
einem kleinen Wassergraben, mitten auf einer Weide. Dort gab es garantiert keine
Fische. Aber das wusste ich natürlich nicht. Bewaffnet mit Angel und Eimer zog
ich mit Opa los. Am Wegesrand leuchtete plötzlich etwas orange-gelb durch das
Gras. Pfifferlinge! Das größte Hobby meines Opas war Pilzesuchen. Er scheute sich nicht, dafür in Schonungen zu kriechen und
kilometerlange Fußmärsche in Kauf zu nehmen. Besonders auf die kleinen, aromatischen Pfifferlinge hatte er sich spezialisiert.
Damit versorgte er auch einige andere Dorfbewohner, die ihm dafür hausgeschlachtete Wurst und Speck gaben.
Diese Pfifferlinge durften dort keinesfalls stehenbleiben. Opa hatte es furchtbar eilig, mich zu dem Wassergraben, der etwa noch
150 m weit entfernt lag, zu bringen. Ausgerechnet an die Stirnseite des ca. 1 m breiten Grabens platzierte er mich. Vielleicht
wäre ja ein Plätzchen an der Breitseite günstiger gewesen? Ich machte mir keine Gedanken. Opa musste es schließlich wissen.
“Wenn du was gefangen hast, rufst du mich!”
Sprach´s, drehte sich um und eilte zu seinen Pilzen.
Da saß ich nun, schaute in das schmutzige Wasser und wartete auf einen Fisch. Ein tiefes
“Muuuh” riss mich aus meinen Träumen von einem Riesenfisch. Als ich mich umdrehte,
standen da zwei Kühe, eine schwarz-weiß- und eine braun-weiß-gefleckte. Wo kamen die
denn plötzlich her? Als ich mich hinsetzte, war weit und breit kein Tier in Sicht gewesen.
Und jetzt guckten mich vier große schwarze Augen an.
“Geht weg! Lasst mich in Ruhe!”
Irgendwie mussten die meine Sprache nicht verstanden haben, denn statt das Weite zu
suchen, traten sie noch einige Schritte näher. Da standen sie nun, beäugten mich neugierig, schüttelten ab und zu die Köpfe, um
die lästigen Fliegen zu vertreiben, wedelten mit den Schwänzen und waren einfach riesengroß. Wollen die mich ins Wasser
schubsen? Können Kühe beißen?
“Opa! Oooopaaa! Ooooopaaaaa, hilf mir doch!”
Mein Geschrei machte die beiden Tiere noch neugieriger. Sie kamen immer näher. Kein Zaun trennte mich von dem
gigantischen Milchvieh. Aus sicherer Entfernung betrachtet erschienen mir Kühe immer so sanft und gemütlich. Jetzt jedoch
geriet ich in Panik.
“Oooooooopaaaaaaaa!”
Ich sah ihn in der Ferne, wie er sich eifrig seinen Pilzen widmete. Opa war ein bisschen schwerhörig. Meine Tante hatte mir
einmal verraten, dass Opa nur das hört, was er hören will. Wollte oder konnte er mich jetzt nicht hören? Er schaute nicht einmal
in meine Richtung.
Da saß ich nun, verzweifelt, vor Angst zitternd. Vor mir das Wasser, hinter mir die beiden Monster, die sich mittlerweile auf
etwa 1 m an mich herangeschlichen hatten. Wie und wohin sollte ich flüchten? Die Kühe standen bereits so nahe, dass mir ihr
Geruch in die Nase stieg. Ilona, renne! Renne, wenn dir dein Leben lieb ist! Ich kratzte all meinen letzten Mut zusammen, stand
blitzschnell auf, wandte mich nach rechts und lief in einem großen Bogen um die Kühe in Richtung Opa. Die beiden Tiere
blickten mir verwundert und verständnislos nach. Weinend ließ ich mich in die Arme meines Opas schließen. Er hatte mich
wirklich nicht gehört. Ich bin mir sicher, dass der beste und liebste Opa, den sich ein kleines Mädchen nur wünschen kann, es
bei Gefahr niemals vorsätzlich im Stich gelassen hätte. Die Lust am Angeln war uns vergangen. Mit einem leeren Eimer, aber
einer Tasche voller Pfifferlinge traten wir den Heimweg an.