Irgendwo, weit außerhalb der Stadt gibt es ein Paradies. Dort scheint immer die Sonne. Ein kleiner, glasklarer See liegt eingeschlossen in einem Ring von grünbewachsenen Bergen. Überall blühen Blumen. Der See ist nicht tief, aber das Wasser so sauber, dass man auf seinem Grund viele tausend bunte Kieselsteine sehen kann. Ab und zu kommt ein Storch angeflogen, der mit seinem langen Schnabel einen dieser Steine aus dem Wasser pickt. An der frischen Luft verwandelt sich der Stein in einen kleinen Menschen. Als ich meine Eltern fragte, woher die Babys kommen, erzählten sie mir die Geschichte vom Klapperstorch. Den See mit den Kieselsteinen hatte ich in einem meiner Träume gesehen. Ich erzählte meinen Eltern davon, und sie waren wohl auch ganz froh darüber, weil ich ihnen mit meiner Theorie weitere Fragen ersparte. In unserer Gartenanlage war ich mit einem Mädchen befreundet, das aus einer kinderreichen Familie stammte. Martinas Mutter arbeitete im Sommer in der Gartenkantine. Ich ging gern bei der freundlichen Frau einkaufen. In mein blaues Plastikkörbchen passten genau zwei Flaschen. Immer wenn ich in die Kantine kam, sprach ich das gleiche Verschen: “Guten Tag! Ich möchte bitte eine rote und eine weiße Brause.” Der Einkauf verlief jedes Mal reibungslos. Einmal brachte mich Martinas Mutter aber in große Bedrängnis. “Wir haben heute auch grüne Waldmeisterbrause.” Oh, was nun? Das Geld reichte für zwei Flaschen. Wofür sollte ich mich entscheiden, wenn aber drei verschiedene Sorten zur Auswahl standen? Das war ein riesengroßes Problem. Ratlos und unentschlossen stand ich vor dem Ladentisch. Mit ihrem Vorschlag, doch einmal die grüne Brause zu probieren, weil die auch sehr gut schmeckt, erleichterte mir die Frau meine Entscheidung nicht. Der Spruch, “ich möchte bitte eine rote und eine weiße Brause” war mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass mich diese neue Möglichkeit völlig aus dem Konzept brachte. Ich weiß nicht, wie lange ich nun dastand. Jedenfalls bereute es die Frau sicher schon, mir dieses zusätzliche Angebot unterbreitet zu haben. Irgendwann verließ ich die Kantine mit einer weißen und einer grünen Brause. Als ich wieder einmal einkaufen wollte, stand ein fremder Mann hinter dem Ladentisch. Ich fragte Martina, wo denn ihre Mutti sei. “Die hat ein Baby bekommen und liegt noch im Krankenhaus.” Warum man deshalb ins Krankenhaus muss, war mir nicht klar. Aber vielleicht ist das ja die Auslieferungsstelle des Storches. “Hast du nicht gesehen, dass meine Mutti schon einen ganz dicken Bauch hatte?” Ja, natürlich war mir das aufgefallen. Kein Wunder, wenn jemand in einer Kantine arbeitete, wo er jeden Tag Bockwurst mit Kartoffelsalat und andere leckere Sachen essen konnte. Aber was hatte das mit dem Baby zu tun? Es war die ein Jahr jüngere Martina, die mich darüber aufklärte, dass das Märchen mit dem Storch totaler Unsinn ist und die Babys im Bauch der Frauen wachsen. Wie sie da rein kommen, konnte sie mir auch nicht sagen. Anfangs weigerte ich mich, ihre eher makaber anmutende Geschichte zu glauben. Ein Mensch im Bauch eines anderen? Dort ist es doch ganz dunkel und man bekommt keine Luft. Wie soll das funktionieren? Da Martina aber durch die Vielzahl ihrer Geschwister über eine gewisse Erfahrung verfügte, musste ich ihr wohl Glauben schenken. Als ich ihre Mutter rank und schlank mit dem neuen Baby im Wagen wiedersah, stellte ich mir schwer enttäuscht die Frage: Warum haben mich meine Eltern so belogen?