Bevor es jedoch zu dieser Operation kam, verhalf man mir noch zu einigen Horrortrips. Eigentlich waren es gar keine, aber was denkt eine inzwischen Sechsjährige, wenn sie das Wort “Labor” hört? Tausende von Flaschen und Gläsern mit unbekannten Flüssigkeiten, kalte, abstoßende Kachelwände, Gifte, Folterkammer. Das waren meine Assoziationen. Und dahin schickte man mich zur Blutentnahme. Blut! Das kann nur Schmerzen bedeuten. Also tatsächlich Folterkammer! Ja, alle sagten, ich müsse keine Angst haben, es tut nicht weh. Aber die konnten mir ja viel erzählen, um mich da hinein zu locken. Ich glaubte ihnen kein Wort. Wenn man mich wirklich nicht quälen wollte, wozu dann dieser gefährliche Raum? Zwei Schwestern und meine Mutter versuchten vergeblich, mich zum Mitgehen zu überreden. Schließlich zerrten sie mich mit Gewalt über den Flur. Ich schrie wie am Spieß, wehrte mich mit aller Kraft, aber die Erwachsenen blieben doch die Sieger. Dieses Labor erwies sich tatsächlich als ein ganz gruseliger Raum. All diese merkwürdigen Gefäße, diese fremden, kaltglänzenden, spitzen und scharfen Gegenstände verursachten schon beim Hinsehen Schmerzen. Ich weiß nicht mehr, wie es trotzdem gelang, dem Ohrläppchen einige Tropfen Blut zu entnehmen. Jedenfalls musste ich einsehen, dass meine Panik völlig unbegründet war. Ein gewisser Respekt vor diesem sterilen organisierten Chaos in einem Labor ist geblieben. Etwas anders sah es aus, wenn man mich zur Bestrahlung schickte. Da wusste ich genau, dass mir niemand wehtun würde. Eines Tages musste die Bestrahlung in einem anderen Raum als üblich stattfinden. Die Sprechstundenhilfe brachte mich in den Keller der Klinik, der u. a. die Massageräume beherbergte. Sie öffnete die Tür und ich erschrak fast zu Tode. Dort lagen drei splitterfasernackte Frauen. Mein etwas gestörtes Verhältnis zur Nacktheit habe ich ja bereits geschildert. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie einen erwachsenen nackten Menschen gesehen. Meine Eltern zogen sich niemals in meiner Gegenwart aus. Ich lebte in der DDR, wo einem aus Zeitung, Fernsehen und Plakaten nicht täglich das unverhüllte Menschenfleisch anstrahlte. Und jetzt gleich 3 Frauen auf einmal!? Ich wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Dabei war ich angezogen. “Da gehe ich nicht rein! Die haben ja gar nichts an.” Ich weigerte mich kategorisch, diesen Ferkeln, die mich auch noch ganz dreist angrinsten, Gesellschaft zu leisten. Die Sprechstundenhilfe verstand meine Reaktion überhaupt nicht. Ich erklärte ihr ernsthaft, dass ich diese Schweinereien nicht mitmache. Meine Ohren sind krank, dafür ziehe ich mich nicht aus. Ich schimpfte wie ein Rohrspatz und hielt demonstrativ die Hände auf meine Jacke, weil ich damit rechnete, man würde mir nun auch jeden Moment die Kleider vom Leib reißen. Die anwesenden Frauen konnten sich, glaube ich, nur mühsam das Lachen verkneifen. Erst als mir die Schwester versicherte, dass ich angezogen bleiben darf, setzte ich mich mit einem sehr unangenehmen Gefühl im Bauch zwischen 2 Pritschen, auf denen jeweils eine dieser schamlosen Personen lag. Während der Bestrahlung redeten sie mit mir und ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, wozu es gut sein sollte, dass eine Masseuse auf nackten Körpern herum klatschte und knetete. Ekelhaft, widerlich! Ich musste den Schock, den dieser Anblick bei mir auslöste, erst langsam verarbeiten. Ein anderer interessanter Anblick, dem ich jedoch weit weniger verachtend gegenüberstand, tat sich mir auch etwa um die gleiche Zeit auf. Früher gab es in Halle eine Straßenkehrerkolonne, bestehend aus überwiegend leicht geistig behinderten Menschen, die mit riesigen Besen die Straßen und Wege sauber hielten. Ich war mit meinem Vater unterwegs, als einer der Straßenkehrer seinen Besen an eine Mauer lehnte, um sein kleines Geschäft zu verrichten. Dass Männer stehend pinkeln, war mir nicht unbekannt, aber wie das eigentlich funktioniert, wusste ich nicht. Dieser Mann also richtete seinen Blick auf den Betonfuß einer Straßenlaterne, öffnete seinen Hosenstall und holte da etwas raus. Er hielt es gegen die Laterne und ein scharfer Strahl ergoss sich. Mein Vater forderte mich auf, nicht hinzuschauen. Ich sah trotzdem beeindruckt auf diese praktische Einrichtung der Natur.