Altweibersommer; Klaus hat nach seiner langen Krankheit noch 2 Wochen
Urlaub, und da sollte man tatsächlich ruhig zu Hause sitzen bleiben? Je älter
wir werden, desto spontaner werden unsere Entscheidungen. Wir entschieden
uns ganz kurzfristig für ein paar Tage an der See. Dank Internet war auch
schnell das Passende gefunden: 4 Tage Ahlbeck in einem
Ferienwohnungskomplex „Inselstrand“. Der telefonische Kontakt klang bereits
sehr sympathisch. Das bestätigte sich dann auch, als wir uns real
gegenüberstanden. Der Wohnkomplex gehört einem niederländischen
Unternehmen. Die Gebäude sind Neubauten, die sich jedoch der
Bäderarchitektur recht gut anpassen. Die Ferienwohnungen sind freundlich und
komfortabel. Da gab es nichts auszusetzen. Wenn uns jetzt noch das Wetter
wohlgesonnen blieb, konnte ein paar erholsamen Tagen nichts mehr im Wege
stehen.
Da waren wir also auf Usedom. Erst hier wurde mir so richtig bewusst, dass es keinen einheitlichen Charakter oben an der
Ostsee gibt. Das, was man unter „Bäderarchitektur“ versteht, findet man am ehesten auf Rügen, diese hellen Gebäude mit den
verzierten Holzgiebeln und -balkonen. Binz hat die wohl schönsten Gebäude. Je nördlicher man sich auf Rügen befindet, desto
mehr reetgedeckte Häuser entdeckt man, desto mehr „Fischerdorfcharakter“ haben die Orte. Ähnlich ist es auch auf dem Darß.
Vereinzelt findet man die typisch norddeutsche Backsteingotik. Auf Usedom hingegen dominiert eine ganz andere Architektur, die
geprägt ist von den Einflüssen des Historismus bis hin zum Jugendstil. Auch sie nennt man Bäderarchitektur, doch handelt es sich
hier um einer Zusammenfassung ganz unterschiedlicher Baustile. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Gebäude einer
mittelalterlichen Burg nachempfunden wurden, oder einem Schweizer Holzhaus, Hauptsache groß, exklusiv und mondän. Ob in
Anlehnung an französische Renaissancepaläste, an Klassizismus oder nach italienischem Vorbild; die Sommerresidenzen
übertrafen sich gegenseitig in Gestaltung und Glanz und waren ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Stellung der Bauherren.
Nirgendwo sonst findet man so viele herrliche, prunkvolle Paläste so konzentriert, wie hier auf Usedom. Schließlich wurden die
Orte Ahlbeck, Heringsdort und Bansin unter dem Begriff „Kaiserbäder“ zusammengefasst. Hier reihen sich die Prunkvillen wie
an einer Perlenschnur und hier war früher auch das Zentrum der besonders wohlhabenden Sommergäste. Die schon von Vicco
von Bülow als Loriot in seinem bekannten Film „Pappa ante Portas“ verwendete Kulisse der Ahlbecker Seebrücke ist eine echtes
Symbol deutscher Bäderarchitektur. Dazu sollte man vielleicht wissen, dass einer seine Vorfahren, Georg Bernhard von Bülow
als erstes Gästequartier das Weiße Schloß auf dem Kulm in Heringsdorf bauen ließ, worauf 1825 der Badebetrieb begann. Die
Schönheit und der Komfort dieser Badeorte sprachen sich schnell herum. Tatsächlich verbrachten bald Kaiser und Könige ihre
Sommerferien in den später nach ihnen benannten Kaiserbädern. Auch namhafte Künstler gaben sich die Ehre. Hier eine kleine
Auswahl der illustren Gästeschar:
1820
weilte der spätere Kaiser Wilhelm I. in Begleitung seines Vaters zu einem Tagesbesuch in
Heringsdorf,
1863
der Schriftsteller Theodor Fontane in der Villa Fontane in Heringsdorf,
1866
Kronprinzessin Victoria mit ihren Söhnen, den späteren Kaisern Friedrich III. und
Wilhelm II. im Weißen Schloss in Heringsdorf,
1889
der Komponist und Walzerkönig Johann Strauß in der Villa Anna in Heringsdorf,
1905
der Österreichische Kaiser Franz-Josef (der Franzl von der Sissi) im Ahlbecker Hof,
1906
der Komponist Engelbert Humperdinck (Oper Händel und Gretel) im Strandhotel
Heringsdorf,
1908-1912
Kaiser Wilhelm II. jeweils im Sommer in der Villa Staudt in Heringsdorf,
der Maler und Zeichner aus New York, Lyonel Feininger, der z.B. Halles 5 Türme in
einer Reihe von expressionistischen Stadtansichten weltbekannt machte, im Haus Zander
in Heringsdorf,
1922
der russischer Schriftsteller Maxim Gorki in der Villa Irmgard in Heringsdorf
1923
der Schriftsteller Heinrich Mann im Strandhotel Heringsdorf,
1924
der Schriftsteller Thomas Mann (Buddenbrooks) im Bansiner Haus Seeblick (heute Hotel
Kaiser Wilhelm) und in der Ahlbecker Villa Heimdahl (heute Rehaklinik der LVM
Sachsen/Baden Württemberg)
Heute ist es so, dass entlang der Uferpromenade die
größten, wertvollsten und prächtigsten Villen zu finden
sind. Die Bezeichnung „Villa“ ist dabei teilweise
untertrieben. Beim Beispiel „Ahlbecker Hof“ möchte
man eher von einem Schloss sprechen. Ähnlich
punkvolle Gebäude findet man noch in den nächsten
ein bis zwei Parallelstraßen. Alle sind Hotels und
Pensionen und zum größten Teil in einem
hervorragenden Zustand. Das war zu DDR-Zeiten
sicher nicht so. Einige Zeugnisse der früheren
FDGB-Urlaubswirtschaft findet man noch hier und
da, doch es ist absehbar, bis auch dafür eine
ansehnlichere Lösung gefunden wird.