zurückblättern
weiterblättern
zurück zum Anfang/Inhalt des Tagebuchs
Und auch die Nächte hatten es in sich. An Ruhe war auf der Intensivstation nicht zu denken. Die Glastüren standen immer offen. Auch wenn der Mann mit dem Gerät, was wie eine Fanfare klang verlegt worden war, gab es genug anderen Lärm. So wunderte ich mich beispielsweise über das Baby, das immer wieder vor sich hin krähte. Es schrie nicht, es weinte nicht, aber es quiekte fröhlich vor sich hin. Seltsam. Schließlich stellte sich heraus, bei dem Baby handelte es sich um einen altersschwachen Treteimer, der bei jedem Tritt diese Babygeräusche von sich gab. Ach gäbe es doch für alles so simple Erklärungen. Ich glaube, es war an dem Abend, als ich frierend Figuren entdeckte, wo doch gar keine waren. Zu später Stunde kam der Arzt zu mir, um sich mit mir zu unterhalten. „Ich habe gelesen, Sie leiden schon seit vielen Jahren unter Depressionen…“ Eigentlich war ich sehr müde, doch ganz plötzlich war ich hellwach und trotz Fieber mein Verstand glasklar. „Depressionen? Ich? Das muss ein Missverständnis sein. Da wurde wohl etwas verwechselt. Mit Depressionen hatte ich nie Probleme.“ Über mir schwebte wohl ein einziges Riesenfragezeichen. In meiner Begleitakte stand das aber. Die wurde angelegt von der Ärztin mit den Sauerkrautstampfern … Sie wissen schon, die mich dann ins Krankenhaus eingewiesen hat. Ja, aber wie kam die darauf? Ich erklärte dem Arzt, dass es sich nur um einen Irrtum handeln kann. Von Depressionen war nie die Rede und diese Ärztin kannte mich gar nicht. Ich weiß nicht, ob er mir glaubte, doch mir war das wichtig, zumal meine Erinnerung an diese Frau sowieso schon denkbar schlecht war. Prompt bekam ich am nächsten Tag Besuch von einer jungen Frau aus der Julius-Kühn-Straße. Der Hallenser weiß, dort ist die Psychiatrie der MLU, umgangssprachlich: die Klapsmühle. Sie war sehr freundlich und ich war ihr ausgeliefert nicht auf der roten Couch, sondern in meinem höhenverstellbaren Krankenbett. Nein, ich bin sicher nicht der Frohsinn in Person, ich sprühe auch nicht täglich vor guter Laune, aber ich bin auch kein Trauerkloß mit Todessehnsucht. Was denkt diese Frau von mir? Welchen Stempel hat man mir hier ganz allgemein aufgedrückt? In welche Schublade hat man mich gesteckt? Ich habe alle Fragen wahrheitsgemäß beantwortet. Was aber glaubt man mir? Und warum wird mir immer und immer wieder angeboten ihre Hilfe anzunehmen? Schließlich rief sie sogar meinen Mann an, um sich mit ihm über mich zu unterhalten und die übereinstimmenden Antworten zu vergleichen. Wer bis dahin nicht depressiv war, kann es jetzt werden. Mir jedenfalls ist diese Geschichte sehr nahegegangen. Im Krankenhaus hat man viel Zeit. Also habe ich gegrübelt, mir den Kopf zerbrochen und bin doch zu keiner vernünftigen Erklärung gekommen.
Träume, Grübeleien und Hiobsbotschaften Anlass zum Grübeln gaben mir auch die Hiobsbotschaften, die mich fast täglich aufs Neue ereilten. So erfuhr ich, dass die Lungenentzündung mit einer Blutvergiftung verbunden war. Einen Tag später litt ich angeblich unter Depressionen und dann hatte ich mich im Krankenhaus mit einem Keim angesteckt. Ich hatte einen deutlich erhöhten Blutdruck und Diabetes. Dazu kam noch Wasser in der Lunge. Die Sepsis hatte bereits mehrere Organe angegriffen. Der Diabetes hatte wohl auch seinen Anteil. Das alles erfuhr ich nun häppchenweise, was mir jeden Tag neuen Grund zu Grübeleien gab. Schließlich kam noch eine Influenza dazu, was mein Umfeld dazu veranlasste, besondere Kittel und Masken zu tragen. Es handelte sich hier nicht um eine Erkältung, die man landläufig Grippe nennt, sondern um eine lebensgefährliche Erscheinung. Und das Verrückte: Ich habe das alles gar nicht so dramatisch empfunden. Ach ja, steinreich bin ich auch noch. Ich erfuhr von Gallensteinen. Solange ich diesbezüglich jedoch beschwerdefrei bleibe, besteht kein Handlungsbedarf. Ich kam zum Bahnhofvorplatz, der viel größer wirkte, als ich ihn in Erinnerung hatte. Rechts saßen hunderte männliche südländisch aussehende junge Männer auf der Erde. Ich lief hinter ihnen vorbei in Richtung Bahnhofshalle. Dann sah ich kämpfende Männer. Sie stritten und schlugen sich. Ich fürchtete mich zwischen die Fronten zu geraten. Schnell lief ich, um zu der Gruppe Frauen zu gelangen, die schweigend direkt vor dem Bahnhofseingang standen. Sie trugen alle schwarze Kleidung, eine Art Burka, die aber die Gesichter freihielt. Zwischen ihnen musste ich wie ein bunter Vogel wirken. Also trat ich in die Bahnhofshalle ein. Dort ließ ich nach meinem Mann ausrufen. Ich wartete an einem Fenster, während mich junge Männer umkreisten und sich an meiner Tasche zu schaffen machten. Schließlich verschwanden sie. Nur einer blieb und bat freundlich um mein Portemonnaie. „Das habt Ihr mir doch längst geklaut.“ Dann ging auch er und endlich tauchte Klaus auf. Das Thema Flüchtlinge war in dieser Zeit allgegenwärtig. Ich war so froh, als ich aus diesem beunruhigendem Traum erwachte. An diesem Tag klopfte mein Herz noch lange ganz wild. Als Klaus mich besuchte, musste ich ihm davon berichten und versichern, wie froh ich bin ihn zu haben.