Begegnung mit dem goldenen Westen
100,- DM
Wenn ich heute die Tagebucheinträge von 1989 lese, bin ich doch recht erstaunt, mit welcher Gelassenheit ich die großen politischen
Ereignisse wahrgenommen habe. So schimpfte ich noch am 7. Oktober, einem Sonntag, über die schlechte Organisation bei unserem
Sonderverkauf anlässlich des Republikgeburtstages und über das furchtbare Wetter, was den Einsatz nicht versüßte. Vor allem in
Leipzig und Berlin soll es zu großen, teilweise blutigen Demonstrationen gekommen sein.
Einen Tag später gab es Probleme mit der Straßenbahn. Ich musste die Tageseinnahmen zum Nachttressor bringen und bin deshalb mit
einer Kollegin aus unserem Nachbarladen über den Marktplatz gefahren. Da sah ich zum ersten Mal, dass sich hunderte Menschen vor
der Kirche versammelt hatten. Die Polizei stand einsatzbereit in der Nähe. Bei den Demonstranten handelte es sich überwiegend um
jüngere Männer und ich schrieb nur: „Was soll das noch werden?“
Vom 14.10. bis 21.10. verbrachten wir unseren Urlaub in Masserberg (Thüringen). Das war ein sehr netter FDGB-Ferienplatz. Während
dieser Zeit waren wir bemüht, die aktuellen politischen Ereignisse genauestens zu verfolgen. Das jedoch war gar nicht so einfachen,
weil die Tageszeitungen immer ganz schnell vergriffen waren. Gespannt lauschten wir täglich den Radionachrichten und ich erinnere
mich noch gut an die Reden von Egon Krenz. Es bewegte sich etwas. Da bahnte sich etwas ganz Großes an. Die Situation spitzte sich
zu und wir konnten einfach nicht überschauen, was da auf uns zukam.
Mein Eintrag zum denkwürdigsten aller Momente war dann fast schon grotesk in seiner Knappheit. So schrieb ich am 10.11.1989:
„ca. +10°C, heiter und freundlich
Dies ist ein historischer Tag. Die Grenzen sind offen. Nun können wir auch in den Westen fahren. Morgen
versuche ich einen Reisepass zu bekommen.
Das war tatsächlich alles, was ich zu diesem Ereignis geschrieben hatte. Man bedenke, was andere darüber für Abhandlungen
veröffentlicht haben. Sogar Filme wurden gedreht, und mir war es lediglich 4 knappe Sätze wert, wovon einer auch nur den
Pragmatiker in mir zeigt. Ansonsten blieb ich ganz emotionslos. Vielleicht kam es ja daher, dass ich nicht in der Lage war, die ganze
Bedeutung der Geschehnisse zu ermessen. Dass es die DDR bald nicht mehr geben würde und wir selbst Bürger der BRD sein würden,
lag jenseits meiner Vorstellungskraft.
In der folgenden Zeit überschlugen sich die Ereignisse. Alles ging drunter und drüber und trotzdem funktionierte es erstaunlicherweise.
Jedem, der nun erstmals in den Westen reiste, stand ein Begrüßungsgeld in Höhe von 100,-DM zu. Einzige Bedingung; man musste es
persönlich vor Ort abholen. Wie lange diese Regelung Gültigkeit hatte, war nicht bekannt. So setzte nun eine Reisewelle ein, wie es
sich wohl nie wiederholen wird. Alte und Kranke nahmen die Strapazen auf sich. Ein Kälteeinbruch hinderte nicht daran, dass
Neugeborene warm eingepackt wurden, denn auch ihnen standen die 100,-DM zu. Kinderreiche Familien, wie es sie in der
kinderfreundlichen DDR reichlich gab, machten sich komplett auf den Weg, dass man meinen konnte, es finden Schulklassenausflüge
statt. Apropos Schulen; es wurde toleriert, dass die Kinder an einem Tag fehlten. Ausnahmsweise genügte eine schriftliche
Entschuldigung, in der die Reiseabsichten mitgeteilt wurden, denn Ferien gab es erst Weihnachten wieder. In vielen Betrieben war man
auch großzügig. So entschuldigten sich meine Kollegin und ich damit, dass wir Kohlen bekämen. Unser Geschäft blieb natürlich weiter
geöffnet, denn wir bekamen die „Kohlen“ schließlich nicht am selben Tag. In diesen Tagen verzeichneten wir einen besonderen Absatz
an Thermosflaschen. Ja, es war kalt und die meisten Kunden begründeten ihren Einkauf mit „der Reise“.
DIE Reise machte meine Familie am 23.11.1989. Bereits um 2.00 Uhr war unsere Nacht zu Ende,
doch da war keine Spur von Müdigkeit, nicht einmal bei unserer damals achtjährigen Tochter. Wir
hatten uns mit meiner Mutter verabredet, die nach ihrem Nachtdienst fahren wollte. Direkt von der
Arbeit ging sie also zum Bahnhof, wo wir uns mit ihr zum Zug 5.15 Uhr nach Berlin treffen
wollten. Es war eine eiskalte Nacht. Um 4.00 Uhr verließen wir das Haus. An der
Straßenbahnhaltstelle warteten wir, standen, warteten, standen…. über eine Stunde. Durch den
Kälteeinbruch waren die Weichen eingefroren und niemand wusste, wann es weitergeht. Ein Auto
hatten wir nicht und ein Handy? Dieses Wort fehlte zu dieser Zeit noch in unserem Sprachschatz.
Schließlich kamen wir doch noch zum Bahnhof, wo uns meine Mutter frierend, müde und
übelgelaunt ihre Schimpftirade entgegenschmetterte. Immerhin hatte sie sogar schon in einem Zug gesessen, sei aber wieder
ausgestiegen, weil wir nicht kamen. Der nächste Zug sollte nun 5.55 Uhr fahren, doch der war so voll, dass man die Leute von den
Trittbrettern holen musste. Aus heutiger Sicht ist es unvorstellbar, was sich da abspielte. Familien wurden auseinandergerissen, weil es
von allen Seiten nur drängte und schubste. Dabei waren die nichtüberdachten Teile der Bahnsteige spiegelglatt, so dass ganz große
Gefahr bestand, in die Gleise zu stürzen. Man stieg sogar zu den Fenstern ein. Die ganze Szene erinnerte an Dokumentaraufnahmen
über die Völkerverschleppung im 2. Weltkrieg. Auch beim Zug um 6.05 Uhr gab es keine Chance mitzufahren. Der nächste sollte um
7.15 Uhr kommen, doch der hatte eine halbe Stunde Verspätung und kam fast zeitgleich mit dem um 7.48 Uhr. Da endlich kamen wir
dann mit. Es gab nur noch Stehplätze, aber wir waren drin. Es wurde später noch ein Behindertenabteil geöffnet und die Leute rutschten
zusammen so gut es ging. Wenigstens unsere Tochter konnte jetzt sitzen. Auch in dem Zug
war es eiskalt, aber trotzdem noch angenehmer als die langen Stunden in der Kälte draußen,
die hinter uns lagen. Man kann sich die Mitreisenden nicht aussuchen. Für Kurzweil und
allgemeines Amüsement sorgte eine Frau, die allen ihren Lebensweg schilderte, ganz egal,
ob es jemanden interessierte oder nicht. Sie war bereits in einer
Nervenheilanstalt, ebenso wie ihre Mutter und die Schwester, doch
sie sei die Gesündeste von allen. So kam sie bei ihren
Schilderungen vom Hundertsten ins Tausendste. Niemand wollte
das wissen. Nur in der armen, kleinen Yvonne hatte sie eine brave,
geduldige Zuhörerin gefunden. Zum Dank schenkte sie ihr
schließlich eine lederne Ausweishülle aus ihrer Geburtsstadt Riga.